16.06.2015

Patientenorientierte Evidenz als Grundlage der hausarztzentrierten Versorgung von Morgen

Durch Professionalisierung der Primärversorgung zu geringeren Kosten und größerer Zufriedenheit

 

Der Vortrag von Prof. Dr. med. Thomas Kühlein zeigte ungewohnte Gemeinsamkeiten: Patientenorientierte Mediziner und fortschrittliche Krankenkassen sehen die aktuellen Probleme der Gesundheitsversorgung durchaus ähnlich. Die Entwicklung der letzten Jahre, so der in der hausärztlichen Praxis erfahrene Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Erlangen, sei gekennzeichnet von einem Zuwachs von „nutzloser Medizin“, der Patientenzahlen und der Kosten - bei einer Abnahme der Zufriedenheit der Patienten. In einem Vortrag auf dem 7. GWQ-Tag nannte er Gründe für diese Entwicklung und beschrieb, wie sich dieser Trend umkehren ließe.

 

Ein zentraler Kritikpunkt Prof. Kühleins bezog sich auf die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die ärztliche Praxis, ohne dabei eigene Erfahrungen oder die Situation des einzelnen Patienten zu berücksichtigen. Denn Wissenschaft liefere zunächst „krankheitsbezogene Evidenz“, die vor allem der Forschung nutze. Es gehe aber um „patientenorientierte Evidenz“, die auf die in der Praxis zu beobachtende klinische Wirklichkeit gründe – allein die nutze Patienten und dem qualitätsbewussten behandelnden Arzt.

 

Was das bedeutet, beschrieb er am Beispiel eines Alzheimer-Medikaments. Zu diesem sagt eine Studie, es bringe bessere Ergebnisse als ein Placebo und habe keine „signifikante Frequenz“ an unerwünschten Nebenwirkungen. Aufgrund dieser Aussagen, so Prof. Kühlein, könnte ein Arzt sagen „das Mittel setze ich bei allen Demenzpatienten ein“. Wenn man jedoch genau nachschaue, was mit „besseren Ergebnissen“ gemeint sei, erkenne man, dass das Mittel nur marginale Vorteile bringt. Mit diesem Wissen könnte das Medikament zwar für einige spezielle Fälle indiziert sein, nicht aber pauschal für alle Patienten mit Demenz.

 

Wenn – bzw. weil – Ärzte heute zu sehr auf die Behandlung von Krankheitsbildern ausgerichtet seien, statt auf das Kranksein im Sinne des subjektiven Befindens der Patienten, käme es zu einer Überversorgung von Patienten ohne akute Beschwerden. Weil z. B. bestimmte Werte wie der Blutdruck die Diagnose einer Krankheit erlauben, würden Patienten präventiv behandelt, auch wenn sie sich „gesund“ fühlen. Tatsächlich könnte der Arzt den Wert aufgrund seiner Erfahrung und der Kenntnis des Patienten eventuell vernachlässigen, weil es keinerlei weitere Risikofaktoren gibt.

 

Ein Handeln nach den Grundsätzen der patientenorientierten Evidenz, schob Prof. Kühlein allerdings ein, wird durch die aktuelle Situation der primärärztlichen Versorgung erschwert. Er verwies darauf, dass Hausärzte in Deutschland im internationalen Vergleich die längsten Arbeitszeiten haben, dazu den größten Verwaltungsaufwand und die meisten Patientenkontakte. Demzufolge und damit wenig überraschend, wenden sie die geringste Zeit pro Patient auf.

 

Trotzdem liegt die Zukunft seiner Meinung nach in einer „starken hausarztzentrierten Versorgung mit dem Hausarzt von Morgen“. Damit stellt Prof. Kühlein zugleich klar, dass dieser Weg zu einer grundlegenden Trendwende nicht kurzfristig beschritten werden kann. Versperrt wird er von der Konkurrenz zwischen Primär- und Sekundärmedizin, die eigentlich kooperieren sollten; von der Wissenschafts- und Technikgläubigkeit, die den Blick auf den einzelnen Patienten verstellt – und nicht zuletzt von einer hausärztlichen Ausbildung, die solche Mängel bis heute festschreibt. Das allerdings, so der positive Blick nach vorne, müsse und werde sich ändern. Die Krankenkassen jedenfalls könnten diesen Wandel durch Förderung von und Forderung nach Professionalität vorantreiben.


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